Auf der Suche nach dem neutralen Zinsniveau

Im Zuge der jüngsten Zinssatzsenkungen stellen sich die Finanzmärkte vermehrt die Frage, was das langfristig gerechtfertigte Zinsniveau in einer Volkswirtschaft sei.

3. Oktober 2024

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«Das neutrale Zinsniveau kann bestenfalls eine Annäherung sein und unterliegt wohl auch permanenten Anpassungen.»

Das neutrale Zinsniveau einer Wirtschaft markiert den Übergang von einer expansiven hin zu einer restriktiven Geldpolitik. Mit Zinsen unter dem neutralen Zinsniveau werden die Wirtschaftsaktivitäten angekurbelt und umgekehrt. Auch wenn die Akteure an den Finanzmärkten und die Vertreter von Zentralbanken sich gerne an einer fixen Grösse orientieren wollen, lässt sich festhalten, dass das neutrale Zinsniveau bestenfalls eine Annäherung sein kann und wohl auch permanenten Anpassungen unterliegt.

Inflationsziel plus Potenzialwachstum

Dennoch gibt es wohl einige Orientierungshilfen für das neutrale Zinsniveau. Es sollte im Mittel zumindest das langfristige Inflationsziel respektive die langfristig realisierte Inflation der betrachteten Volkswirtschaft abdecken.

Andererseits sollte es dem potenziellen Wachstum einer Volkswirtschaft entsprechen. Das Potentialwachstum einer Wirtschaft markiert den Punkt, an dem eine Wirtschaft ihre Produktionsfaktoren Boden, Arbeit und Kapital überbeansprucht und damit höhere Inflation generiert und umgekehrt.

Dieser Wert kann mit einigen Annahmen geschätzt werden, dürfte die Realität aber nur in seltenen Situationen abbilden. In der Praxis wird deshalb das Potentialwachstum einer Volkswirtschaft oft mit dem langfristigen Trendwachstum gleichgesetzt.

Grob geschätzt zwischen 3 und 4 Prozent

Auf der Basis dieser Überlegungen liesse sich also der neutrale Zinssatz für die Schweiz, wie folgt berechnen: In der Schweiz scheint das Inflationsziel irgendwo zwischen 1,5 und 2 Prozent zu liegen. Gleichzeitig ist das langfristige Wirtschaftswachstum und damit das Potentialwachstum der Schweiz auf einem Niveau zwischen 1,5 und 2 Prozent. Grob beurteilt würde das neutrale Zinsniveau der Schweiz auf einen Wert zwischen 3 und 4 Prozent zu stehen kommen.

Angesichts der jüngsten Inflationsentwicklung ist dabei ein Wert am unteren Rande dieses Bereichs realistischer als ein Wert am oberen Ende dieses Bereichs. In einer Situation, in der es der Zentralbank einer Volkswirtschaft gelingt, den wachstums- und damit inflationsneutralen Zinssatz anzusteuern, würde sich dieser neutrale Zins auch entlang der gesamten Zinskurve ergeben.

Jede Abweichung des Geldmarktsatzes vom langfristigen Satz also jede Zinskurve mit einer – positiven oder negativen – Steigung, wäre als Hinweis zu interpretieren, dass der Geldmarktsatz der jeweiligen Volkswirtschaft nicht dem neutralen Zinssatz entspricht. Es gibt aber auch andere Faktoren, die kurz- und mittelfristig den neutralen Zinssatz beeinflussen.

Zentralbanken nutzen Spielraum aus

Diese umfassen Risikoüberlegungen aber auch regulatorische Anpassungen. So könnte beispielsweise, das geringere Angebot an Liquidität seitens der Zentralbanken temporär zu einer Reduktion des neutralen Zinses führen. Auch die Wechselkurssituation spielt bei der Bestimmung eines neutralen Zinses eine Rolle.

Vieles spricht also dafür, dass sich in der aktuellen konjunkturellen Situation der neutrale Zins auf tieferen Niveaus befindet, als dies in der Vergangenheit angenommen wurde. Die Zentralbanken scheinen bereit, diesen Spielraum auszunutzen und gegebenenfalls temporär höhere Inflation in Kauf zu nehmen.

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